
15. Kapitel: Midwest
Nach ca. zwei Stunden überschreiten wir die nächste Grenze, nach MINNESOTA, the „State of 10,000 Lakes“. „Minnesota und Dakota, Manitu der Himmelvåta schuf die Liebe und den Suff. Buffalo Bill, puff, puff, puff.“, wie Hermann Leopoldi in seinem Lied über den „klanen Sioux-Indiana“ zusammenfassend bemerkte.
Wir sind im Mittelwesten angekommen. Er nennt sich so, weil er sich einerseits von den Oststaaten abheben will und andererseits nicht zum „Wilden Westen“ gehört. Er gilt als sehr bodenständig. In dieser Region gibt es auffällig viele Brauereien. Das kommt daher, dass viele Auswanderer aus Deutschland in diese Region eingewandert sind.
Wo werden wir heute schlafen? In Sauk Centre wartet der nächste Walmart-Parkplatz auf uns, schon wieder unerwartet.
Fr, 4. August
Noch zwei Monate, am 4. Oktober geht unser Flugzeug.
Wir fahren heute nur ca. 170 km nach Minneapolis, der größten Stadt von Minnesota. Der Name ist aus dem indianischen Wort für Wasser „minne“ und dem griechischen „polis“ zusammengesetzt. Hier fließen ja die zwei großen Flüsse Minnesota River und Mississippi zusammen. Wir sind also zurück am „Ol’ Man River“. Die Hauptstadt, Saint Paul ist mit Minneapolis zusammengewachsen. Die beiden Städte bilden mit ein paar umliegenden Kleinstädten die Metropolregion Twin Cities mit fast 3 Mio. Einwohnern. Bei einem Spaziergang in Downtown schnuppern wir heute also wieder einmal Stadtluft. Das gefällt uns nach der Einsamkeit der letzten Tage recht gut.
Für die nächsten zwei Nächte haben wir zur Abwechslung einen Campingplatz gebucht, im Vorort Maple Grove, im Ahornhain also. Wir freuen uns auf den morgigen Ruhetag.
Sa, 5. August
Sehr angenehm, ein Ruhetag auf dem Campingplatz ohne besondere Vorkommnisse- wenn man Haare schneiden und Wäsche waschen nicht dazu zählt.
So, 6. August
Als erstes fahren wir in den Whole Food Market und stellen uns in bewährter Manier aus dem reichhaltigen Buffet eine Mahlzeit für den Abend zusammen. Nun geht es in den Minnesota Zoo, ein riesiges waldartiges Gelände mit großen Wasserflächen. Als Wegzehrung von einem Gehege zum nächsten könnten wir uns z.B. kopfkissengroße Säcke mit Popcorn mitnehmen.
Endlich bekommen wir einen Elch zu sehen, und ein Stachelschwein, und Caribous = Rentiere. Auf Waschbär und Stinktier warten wir allerdings immer noch vergeblich. Mit Bären, Bisons, Pronghorns, Weißkopfseeadlern und Präriehunden können sie uns kaum beeindrucken.
Wir fahren weiter nach Süden. IOWA begrüßt uns mit einer Idylle: rote Häuser, grüne Wiesen, Blumen. In Lake Mills finden wir einen netten Schlafplatz am Winnebago River, neben einem kleinen Wäldchen, einen Parkplatz für Jäger. Immerhin werden wir aufgefordert, nur mit ungiftigen Schrotkugeln zu schießen.
Mo, 7. August
Wir fahren im Sonnenschein durch ein sehr flaches, grünes Land, entlang endloser Mais- und Sojafelder, genmanipuliert wahrscheinlich. GMO heißt das hier = gentechnically modified organisms. Ein kleines, nettes Flugzeug versprüht chemisch stinkendes Zeug, auch auf die hübschen, roten Farmhäuser. Alle Fenster zu, keine Außenluft ins Auto lassen und nichts wie weg hier! Die Idylle ist also perfekt. :-(.
Vor uns taucht ein großer Windpark auf, der erste seit Kalifornien. Die nächste Ortschaft heißt Madrid, ziemlich größenwahnsinnig. In der hübschen Westernstad, Winterset informieren wir uns im Visitors Center über die nostalgischen, roten, überdachten „Bridges von Madison County“, die im gleichnamigen Film mit Meryl Streep und Clint Eastwood vorkommen. Wir wollen einige davon besuchen. Auf dem Weg kommen wir fast zwangsläufig am Geburtshaus von John Wayne - samt Statue - vorbei. 1907 wurde er hier in bescheidenen Verhältnissen geboren. Auch die Sitzbesichtigung des Courthouse mit dem überdimensionalen Turm mit Kuppel lässt sich nicht vermeiden. Weiter geht es über Staubstraßen. Wir klappern nun nämlich einige der hübschen Holzbrücken ab, die Roseman Bridge, die Cutler-Donahue Bridge, die Holliwell Bridge und die älteste, die Imes Bridge, 1870 gebaut. Sie sind einander sehr ähnlich und wurden alle Ende des 19. Jhd. gebaut. Bis in die 1990er-Jahre haben sie als Verkehrswege gedient. Heute sind sie allerdings nur mehr Historical Sites.
Unsere Reise geht nun weiter nach Osten. Unseren Schlafplatz haben wir in Marshalltown hinter einem McDonalds gefunden. Die Infrastruktur ist also heute wieder hervorragend. Über uns steht der Vollmond. Also ist auch für die Romantik gesorgt.
Di, 8. August
Weiter geht es nach Nordosten. Wir sind unterwegs zu den Amana-Dörfern. Eine deutsche reformierte, christliche Glaubensgemeinschaft hat sich am Beginn des 18. Jhd. hier niedergelassen. Ca. 800 „Inspirierte“, wie sie sich selber nennen, sind hierher ausgewandert. In Deutschland wurden sie verfolgt, weil sie für die freie Rede entraten und ihre Kinder nicht in die öffentlichen Schulen schicken wollten. Sie meinen nämlich, dass Gott sich den Einzelnen offenbart, wie zur Zeit der Propheten. In ihren Gottesdiensten darf jeder sprechen. Lange Zeit bewahrten sie sich ihre Sprache, einen Süddeutschen Dialekt. Leider gibt es heute kaum mehr jemanden, der ihn noch spricht oder deutsch versteht. Den Namen „Amana“ haben sie ausgesucht, weil Hügeln, die im „Hohelied von Salomon“ vorkommen, so heißen. Bis in die 1930er-Jahre lebten sie ziemlich abgeschottet von der Außenwelt als Selbstversorger, auf Farmen und in Handwerksbetrieben. Sie hatten auch ihr eigens Schul- und Gesundheitssystem und ihre eigene Altenbetreuung. Es gab kein Privateigentum. Viele der Frauen arbeiteten in den Gärten und Gemeinschaftsküchen, es wurde nämlich gemeinsam gegessen. Die „Omas“ hüteten die kleinen Kinder - ab dem Alter von drei Jahren - in der „Kinderschule“. Ab dem Alter von 14 Jahren lernten die jungen Leute die Berufe, die gerade gebraucht wurden oder wofür sie besonders begabt waren. Manche verließen auch die Gemeinschaft. Viele kehrten aber auch wieder zurück.
Dann kam die große Wirtschaftskrise, und die „Inspirierten Brüder und Schwestern“ gerieten in finanzielle Probleme. Außerdem wurden die Einflüsse von außen immer größer. Bis dato hatte es ja kein Radio u.ä. gegeben. Die Gütergemeinschaft wurde aufgegeben. Nach diesem „Great Change“ kochte nun jede Familie buchstäblich ihr eigenes Süppchen. Die Glaubensgemeinschaft besteht bis heute. Die Dörfer sind allerdings mittlerweile offen für alle, und die Bevölkerung ist bunt gemischt. Die Gegend, die sie sich ausgesucht haben, ist jedenfalls sehr nett. Möglicherweise hat sie an ihre Heimat erinnert. „Alpenvorland ohne Alpen“, nennt sie Klaus. Wir fahren durch einige dieser Dörfer bis zum Heritage Center und Museum. Auf den Ortschildern steht „Willkommen“. In Middle Amana wäre uns der Lily Pond fast nicht als Wasserfläche aufgefallen. Er ist völlig mit Wasserlotos bewachsen und bildet einen Teppich voller grüner Blätter und großer gelber Blüten.
Das Museum ist im damaligen Schulhaus untergebracht. Es erinnert Klaus an das Haus seiner Kopfinger Großmutter. In der Museums-Werkstätte riecht es auch wie bei der Großmutter.
Nach diesem Ausflug in die Vergangenheit machen wir uns wieder auf den Weg. Wir wollen nicht auf der Autobahn dahinglühen und fahren daher eher durch kleinere Städtchen und Ortschaften z.B. Cedar Rapids und Mount Vernon- das ist natürlich nicht das in Virginia, wo George Washington seinen Landsitz hatte. Wir haben schon mehrere Orte gesehen, die sich danach benannt haben.
Und dann überqueren wir den Mississippi und reisen in ILLINOIS ein, diesmal nur für ein paar Minuten, denn ehe wir es uns versehen, sind wir schon in WISCONSIN. In Sinsinawa machen wir es uns hinter der katholischen Kirche für die Nacht gemütlich, während unsere Drohne eine Runde um den Kirchturm fliegt.
Mi, 9. August
Ein strahlender Morgen. Unser Nachbar, der uns heute in aller Früh besucht, ist ein sehr niedliches, kleines Hörnchen. Es hat Streifen und Punkte auf seinem Rücken, Zierzeilen also.
Wir überlegen, wo wir eigentlich sind. „Heute ist Mittwoch, also muss dies Wisconsin sein.“ Wir machen es fast so, wie die sprichwörtlichen amerikanische Touristen auf Europareise, nur umgekehrt. Wir nehmen uns allerdings doch etwas mehr Zeit.
Zunächst fahren wir wieder an riesigen Maisfeldern vorbei. Das ist hier wohl eine „Corn“-Kammer der USA. Taferln zeigen jeweils an, von welcher Firma das Saatgut gekauft wurde. Sehr wahrscheinlich handelt es sich um Hybride, die nicht mehr keimen.
Es kommt uns so vor, als sei unglaublich viel Zeit vergangen, seit wir durch Wüsten gefahren sind, mit einigen Stachelbüschen und Kakteen. Und doch war das auch auf dieser Reise.
Wisconsin ist vergleichsweise dicht besiedelt. Es gibt Ortschaften entlang der Straße und sie sind enger beisammen, als wir das mittlerweile gewohnt sind. Eine davon heißt Verona. Grundsätzlich ist ja die Bevölkerungsdichte im Osten der USA größer, als die im Westen. Hier ballen sich ja auch viel mehr kleinere Staaten zusammen.
In Madison, der Hauptstadt von Wisconsin, machen wir eine Pause. Angeblich ist es die freundlichste Stadt der USA. Es gibt viele vegetarische Restaurants und Fair-Trade-Cafés. Die vielen Fahrräder und Radwege fallen uns sofort auf. Die Lage an zwei großen Seen und einem kleineren ganz in der Nähe ist auf jeden Fall sehr ansprechend. Weil sie die Hauptstadt eines Bundesstaates ist, hat sie - wie alle anderen - natürlich ein Kapitol mit Kuppel, sogar das größte außerhalb von Washington D.C. Wir spazieren zum Lake Monona, einem wunderbaren Erholungsgebiet. Viele Spaziergänger, Radfahrer und Läufer sind unterwegs. Einige junge Leute machen Gymnastik oder Yoga. Von den Monona Terraces aus haben wir einen schönen Blick auf den See und auf die Innenstadt. Dieses hübsche, moderne Gebäude mit einem Café auf dem parkartig gestalteten Dach dient eigentlich als Parkhaus. Beim Rückweg zum Auto schlendern wir durch einen Gemüsemarkt, vorbei am Capitol.
Der erste Eindruck von Milwaukee ist nicht ganz so toll. Das ist halt eine richtige Großstadt. Wegen einer Baustelle auf der Autobahn, können wir die Ausfahrt zu unserem Campingplatz, die uns das GPS vorschlägt nicht nehmen, und wir müssen einen großen Umweg durch den Stadtverkehr in Kauf nehmen. Klaus chauffiert souverän und behält trotz großer Anstrengung die Ruhe. Der Platz ist erfreulicherweise sehr angenehm. Er liegt in einem Vorort namens Caledonia und heißt - sicher nicht zufällig -„Jellystone“, nicht zu verwechseln mit Yellowstone. Wir sitzen bei moderaten Temperaturen unter Föhren und schnaufen erst mal durch. Die Stadtbesichtigung heben wir uns für morgen auf.
Do, 10. August
Es schüttet. Wir rüsten uns für Regenwetter aus und rufen uns ein Uber-Car zum Art Museum. Campingplätze liegen ja in großen Städten meist ziemlich weit außerhalb.
Der Name, Milwaukee ist - wie wir schon vermutet haben - indianisch. „waukee“ heißt „am Wasser“. Wir haben schon einige Ortsnamen gesehen, die diese Endung in ihrem Namen haben. Es gibt ja auch sehr viele Seen in Wisconsin. Da ist bald einmal etwas am Wasser. „Milwaukee“ heißt „Versammlungsort am Wasser“. Die Stadt selbst hat nur ca. 600.000 Einwohner. Sie ist aber Mittelpunkt einer Metropolregion, in der ca. 1,7 Mio. Menschen leben. Schon von weitem können wir den Grund unseres Hierseins sehen, den Anbau zum Art Museum von Santiago Calatrava aus 2001. Sein „Oculus“ beim One World Trade Center in New York hat uns ja besonders gut gefallen. Auch hier breitet ein großer, weißer Vogel seine Schwingen aus. Das schlechte Wetter bietet besondere Fotomotive, z.B. Spiegelungen in Wasserpfützen, u.ä. Auch vom Inneren des Gebäudes bin ich begeistert. Die großen Fenster zum Michigan See hin vermitteln das Gefühl, auf einem Schiff zu sein und gleich in See zu stechen. Eine Große Weite tut sich vor uns auf. Auch viele Kunstwerke gefallen uns. Von manchen Künstlern haben wir noch nie etwas gehört, andere sind uns wohl vertraut. Roy Lichtenstein, Andy Warhol, Joseph Beuys- mit dem konnte ich allerdings noch nie etwas anfangen. Besonders freuen wir uns über Gabriele Münter, Wassily Kandinsky, Alexej Jawlensky und Marianne von Werefkin, die wir ja von unserer Kunstreise nach Murnau im letzten November gut kennen und sehr schätzen. Auch Picasso, Chagall, Klee, Beckmann und viele andere gefallen uns gut. Ziemlich lustig finde ich das Bild „The King’s Jester“ = der Hofnarr von Miró. Sogar einige Toulouse Lautrecs gibt es hier. Zu unserer Überraschung entdecken wir ein Bild von August Walla, einem Art Brut Künstler aus der Nervenheilanstalt in Gugging. Erstaunlich dass es seinen Weg bis Milwaukee gefunden hat. Es gibt aber natürlich auch in diesem Museum mehrere Räume, die wir rasch durcheilen. Eine Sonderausstellung ist dem von uns hochgeschätzten Architekten, Frank Lloyd Wright gewidmet. Wir haben das von ihm gebaute Guggenheim-Museum in New York besucht. Hier bekommen wir vor allem Möbel, Lampen u.ä. zu sehen. Das Haupt-Kunstwerk ist aber - da sind wir uns einig - das Gebäude selbst. Täglich um 12h Mittag werden die Flügel ganz langsam zu- und wieder aufgeklappt. Das Schauspiel wollen wir natürlich nicht versäumen. Wir können es sogar bei sonnigem Wetter genießen. Gerade rechtzeitig hat es zu regnen aufgehört, und es zeigt sich blauer Himmel. Dabei schauen wir auf den See hinaus. Das scheint hier der schönste Teil der Stadt zu sein. Der Michigansee, der sich langgestreckt von Norden nach Süden zieht, ist einer der fünf Great Lakes Nordamerikas. Flächenmäßig ist er etwas größer als die Schweiz. Er liegt vollständig in den USA. Sein Name ist indianisch und heißt „großes Gewässer“. Der gleichnamige Bundesstaat ist nach dem See benannt.
Wir spazieren nun ein wenig durch Downtown und erfreuen uns an den altmodischen Backstein-Wolkenkratzern, die uns wieder aus alten Filmen vertraut erscheinen. Dazwischen stehen noch ältere, vergleichsweise niedrige Häuser. Wir sind hier in einer richtigen Altstadt, soweit das in Amerika eben möglich ist. Auch am Milwaukee River entlang lässt es sich nett flanieren. Nun haben wir aber genug Schritte für heute in den Beinen. Also lassen wir uns mit einem Uber-Car wieder nach Hause bringen.
Fr, 11. August
Wir haben heute nicht so viele Kilometer vor uns, also können wir ausschlafen. Wir sind unterwegs nach Chicago. Wir fahren wieder über die Dörfer statt auf der Autobahn.
Klammheimlich sind wir wieder nach ILLINOIS the „Land of Lincoln“ eingereist. Wir merken es erst an einem Schild mit der Aufschrift „keep Illinois clean“. Sonst erkennen wir keinen Unterschied, Maisfelder und Maisfelder, Bewässerungsanlagen, von oben her besprüht- diesmal mit Hubschrauber. Der Inbegriff der intensiven Landwirtschaft.
Auch hier wohnen Leute, die der Gestank offenbar nicht stört. Sie sitzen gemütlich in ihren Gärten oder mähen seelenruhig den Rasen.
Unser Campingplatz liegt im Vorort Union. Wir haben hier für zwei Nächte einen Platz gebucht, einen sehr schönen sogar, wie sich herausstellt. Wir haben hier nicht nur „picnic table“ und Feuerstelle, wie fast überall, sondern sogar eine Hollywoodschaukel ganz für uns allein. Auf der sitzen wir gemütlich und schauen in die Glut, bis uns kühl wird, und wir uns in unser Häuschen zurückziehen. Von den Perseidenströmen werden wir heute Nacht ohnehin nichts mitbekommen, dazu gibt es hier eindeutig zu viel Lichtverschmutzung.
Sa, 12. August
Ein Uber-Car bringt uns zum Bahnhof, der ca. 25km entfernt ist. Die freundliche Dame in der Campingplatz-Rezeption hatte sogar einen Fahrplan für uns und hat uns genau erklärt, wie wir ins Stadtzentrum kommen. Die Zugfahrt für die ca. 80km dauert ungefähr eineinhalb Stunden.
Der Name Chicago ist wieder einmal indianischen Ursprungs und bedeutet „Wilde Zwiebel“. Die sind offenbar damals hier gewachsen. Die Stadt hat sich, wie so viele andere, aus einem Fort entwickelt. 1830 hatte sie gerade einmal 100 Einwohner, 40 Jahre später bereits 300.000. Die Einwanderungswelle hatte voll zugeschlagen. Nach wie vor ist sie die größte „burgenländische Stadt“. Ca. 30.000 Burgenländer sind hierher ausgewandert. Heute wohnen in Chicago ca. 2,7 Mio. Menschen. Das ist also eine wirkliche Großstadt, die drittgrößte US-Metropole nach New York City und Los Angeles. Im Großraum leben ca. 9,5 Mio. Leute. Der Prozentsatz der Schwarzen ist in dieser Stadt besonders hoch, ca. 30%. Viele ehemalige Sklaven kamen aus den Südstaaten, wo sie als Baumwollpflücker gearbeitet hatten. Sie haben ihren Blues mitgebracht. Etwas modifiziert wurde er hier zum „Chicago-Blues“. Man kann ihn immer wieder einmal in den Straßen hören. Uns gefällt das gut.
Das Stadtzentrum heißt „The Loop“, benannt nach der Trasse der altmodischen Hochbahn, die die Stadt wie eine Lassoschlinge umschließt. Da stehen besonders hohe Wolkenkratzer. Die wurden sogar hier erfunden. Zunächst wurden sie mit Ziegeln gebaut. Die Gebäude wurden dadurch immens schwer. Einige dieser - vormals modernen - Hochhäuser gefallen uns recht gut. Heute wendet man die Stahlskelettbauweise an. Eine Weiterentwicklung sind nun die Wolkenkratzer mit den großen Glasflächen. Sie werden in das Stahlskelett eingehängt. Glas kann ja statisch nur wenig Gewicht tragen.
Aus dem Zugfenster können wir bereits einen Blick auf den Willis Tower werfen. Man erkennt ihn an seinen zwei Antennen. Bis 2009 hieß es Sears Tower. Der Versicherungskonzern „Willis“ hat einen Großteil der Büros gemietet und die Namensrechte gekauft. Der Konzern „Sears“ nutzt ihn nicht mehr. Er wird aber in der Bevölkerung weiter „Sears Tower“ genannt. Schließlich hat er ca. 30 Jahre so geheißen. Mit seiner Höhe von 527,3m - samt Antennen - war er lange Zeit das höchste Gebäude der Welt, heute ist er nur mehr das zehnthöchste. Auch vom neuen World Trade Center in New York wurde er übertrumpft. Er besteht aus neun quadratischen Säulen, die in unterschiedlicher Höhe enden. Er ist mit schwarzem Aluminium verkleidet, was recht elegant wirkt.
Wir steigen mitten in Downtown aus dem Zug. Zunächst überqueren wir den Chicago River, auf dem Wassertaxis verkehren. Im 19. Jhd. wurde die Fließrichtung des Flusses umgedreht, weil er mit seinen Industrieabwässern den Michigansee verunreinigte. Gut, dass wir nicht am St. Patricks-Day hier sind. Da wird er nämlich immer giftgrün eingefärbt.
Wir machen einen kleinen Umweg zum großen Mosaik „Die vier Jahreszeiten“ von Marc Chagall. Überhaupt steht in dieser Stadt viel Kunst im öffentlichen Raum rum. Nicht weit von hier finden wir den roten „Flamingo“ aus Metall von Alexander Calder. Mich erinnert er ja eher an einen Elefanten. Er bildet einen reizvollen Kontrast zum schwarzen Kluczynsky Federal Building von Mies van der Rohe, vor dem er steht. Diesen Architekten schätzt Klaus besonders. Die Spiegelungen in der Fassade begeistern den Fotografen.
Zwischen Downtown und dem Michigan See liegt der Grant Park gleichsam als Pufferzone. Benannt ist er nach General Grant. Er ist 2km lang und ca. 500m breit. An seiner Nord-West-Ecke liegt der Milleniumspark auf dem weltweit größten begrünten Dach. Es gibt viele Dachgärten in der Stadt und viel Grün. Überhaupt ist Chicago stolz darauf, ein Vorreiter der ökologischen Bewegung zu sein. Der Buckingham Brunnen beeindruckt uns nicht besonders, wohl aber die riesige „Bohne“. Wegen seiner Form hat das Kunstwerk „Cloud Gate“ vom indischen Bildhauer Anish Kapoor diesen Spitznamen bekommen. Es besteht aus auf Hochglanz polierten Edelstahlplatten, deren Schweißnähte man nicht sieht. Die ganze Skyline der Stadt und der Park samt seinen Besuchern spiegelt sich verzerrt darin. Auch der Jay Pritzker Pavillon, eine Konzertmuschel von Frank Gehry gefällt uns gut. Wir haben von ihm bereits die Walt Disney Concert Hall in L.A. bewundert. Irgendwie hat der Überbau für mich - besonders aus der Ferne - etwas von einem glänzenden, silbernen Wurm. Den Crown Fountain finde ich besonders originell. Ein reflektierender Pool aus schwarzem Granit zwischen zwei 15m hohen Glasbausteintürmen. Auf die Glaswände werden Gesichter von 1000 Einwohnern Chicagos projiziert, aus deren Münder in regelmäßigen Abständen Wasser gespieen wird. Jedes Gesicht erscheint für fünf Minuten. Alle Ethnien, die in der Stadt leben, sind vertreten. Viele Kinder plantschen im Wasser und lassen sich bespritzen. Das ist erwünscht und gehört zum Kunstwerk dazu.
Der Michigansee bietet Bootanlegeplätze, eine Flaniermeile und Badestrände. Hier startet auch offiziell die Route 66, die ja von Chicago nach Los Angeles führt. Von hier aus schauen wir auf das Riesenrad hinüber. Laut Reiseführer ist es dem Wiener Vorbild nachempfunden. Wir können keine Ähnlichkeit entdecken. Sein Vorgänger, es war das allererste Riesenrad der Welt, wurde zur Weltausstellung 1893 erbaut, ist aber 10 Jahre später abgebrannt. Das Wiener Wahrzeichen stammt aus dem Jahr 1897. Da ist doch eher unseres das Nachempfundene. Allerdings steht das immer noch. Das neue Ferry Wheel gibt es erst seit 2016.
Die hochgepriesene „Magificent Mile“ mit den besonders teuren Markengeschäften ignorieren wir vollständig.
Dass Chicago eine Gourmetstadt ist, genießen wir im Restaurant des Art Institutes- sehr exquisit.
Klaus freut sich sehr auf dieses Museum, besonders auf Edward Hopper, den ich im Whitney- Museum in New York kennengelernt habe. Sein Bild „Nighthawks“ = „Nachtschwärmer“ aus dem Jahr 1942 ist eine Ikone amerikanischen Lifestyles. Das Motiv wurde sehr oft mit wechselnden Figuren nachgestellt und auch oft parodiert. „American Gothic“, ein Bild aus dem Jahr 1930 von Grant Wood finde ich sehr witzig. Es zeigt einen Farmer mit Heugabel und seine ältliche, unverheiratete Tochter. Beide schauen gar nicht glücklich aus. „After visiting Iowa“ steht drunter. Wir können das nur bestätigen.
Aber wir bekommen auch einige Impressionisten, Picassos, usw. zu sehen. „Ein Sonntagnachmittag auf der Grande Jatte“- einer Insel in der Seine - von Seurat gehört zu den besonderen Schätzen des Hauses. Es ist das Hauptwerk des Pointillismus. Wir haben in irgendeinem anderen Museum bereits Vorstudien zu diesem Bild gesehen. Van Gogh ist u.a. mit einem seiner Selbstportraits vertreten „Das Wiegenlied“ haben wir doch schon in New York im MET gesehen? Aha, davon gibt es fünf Versionen, wie wir in der Wikipedia erfahren. Auch sein „Schlafzimmer in Arles“ hat er mehrmals gemalt. Die Darstellung hat uns schon 2003 im Musée d’Orsay in Paris so gut gefallen. Es gibt hier noch viele andere Kunstwerke, die mir sehr gefallen, z.B. „Die verzauberte Mühle“ von Franz Marc, „The red Armchair“ von Picasso, die „Jazz Wall“ von Marisol Escobar oder - wie immer - die Renoirs. Es ist aber auch vieles dabei, was mir nicht gefällt.
Wie immer nach einem Museumsbesuch sind wir ziemlich geschlaucht. Es warten aber noch einige Highlights in der Stadt auf uns. „The Picasso“ ist eine ca.15m hohe Stahlskulptur. Das Werk hat keinen Titel. Ich glaube einen Pferdekopf darin zu erkennen. Heuer ist es 50 Jahre alt geworden.
Gleich gegenüber können wir „The Miró“ bewundern. Offiziell hat das Werk den Namen „Miró’s Chicago“. Eine 12m hohe weibliche Figur aus Beton, Bronze und Keramikfliesen.
Daneben steht der Chicago Temple, ein Wolkenkratzer mit „gotischem Turm“ oben drauf. Er dient u.a. als methodistische Kirche und hat die höchste Kirchturmspitze der Welt, 173m. Einige Stockwerke sind an Anwälte vermietet
Nun suchen wir noch das „Monument with Standing Beast“ von Jean Dubuffet, ein bemaltes, felsartiges Gebilde aus Polyester.
Vieles hat mir in der Stadt gefallen, noch mehr war interessant. Aber das Herz ist mir nicht aufgegangen. Einige Obdachlose haben wir auch gesehen, aber nicht sehr viele.
Von der Gangsterszene der 1930er-Jahre ist nichts mehr wahrzunehmen. In der Prohibitionszeit, 1920-1933 hat hier der illegale Alkoholhandel geblüht. Es gab geheime Destillen und Vertriebswege. In sogenannte „Speakeasies“ = Flüsterkneipen wurden alkoholische Getränke in Teetassen ausgeschenkt. Hier war damals der Sitz der Mafia, mit Al Capone an der Spitze. Chicago wurde damals „als einzige Stadt in Amerika“ bezeichnet, „die durch und durch korrupt ist.“ Die Garage, in der das Valentinstags-Massaker stattgefunden hat, gibt es nicht mehr. Da ist jetzt bezeichnenderweise der Parkplatz eines Altersheims.
Der Vorort Oak Park, in dem einige Villen von Frank Lloyd Wright stehen, ist uns einfach zu abgelegen. Wir haben Zeichnungen und Fotos davon vorgestern im Art Museum in Milwaukee gesehen. Es ist schon später Nachmittag und wir haben ja noch eine lange Heimfahrt mit Zug und Taxi vor uns.
So, 13. August
Auf diesem Campingplatz war es besonders nett, „aber der Wagen, der rollt“, weiter nach Süden. Über Stadtautobahnen werden wir nochmals durch Chicago geführt. So können wir noch einen letzten Blick auf die Skyline samt Willis Tower werfen. In INDIANA überschreiten wir die Zeitzone zur Atlantic Time. Darum kümmern wir uns aber nicht weiter, weil wir noch heute wieder nach ILLINOIS zurückkehren werden. Eintöniges, ebenes Agrarland, Mais und Sojabohnen und dann zur Abwechslung Sojabohnen und Mais. Unser heutiges Tagesziel ist der Walmart-Parkplatz in Danville. Mittlerweile fragen wir nicht mehr, ob wir hier übernachten dürfen.
Mo, 14. August
Weiter nach Südwesten, keine besonderen Vorkommnisse. Wieder Soja und Mais, eine „ausgeräumte Landschaft“, in der kaum mehr wilden Tiere und Pflanzen leben können. Die Lust, Kukuruz zu fladern, ist mir längst vergangen.
Die Hauptstadt von Illinois ist Springfield. Ist es das richtige? Es gibt kein richtiges. Ein Ort in der Nähe heißt bezeichnenderweise Homer. Atomkraftwerk können wir keines entdecken. Die hiesige Stadt war jedenfalls der Wohnort Abraham Lincolns, als er noch ein kleiner Anwalt war. Wir ignorieren sein Memorial allerdings.
Auch hier beherbergt uns der Walmart. Es ist fast so, als wären wir gar nicht weg gewesen. Irritierend ist nur, dass die Klos spiegelverkehrt angelegt sind. Wir kaufen u.a. Müllsäcke. Es gibt keine ohne Duft. Wir entscheiden uns für Zitrone und beschließen, unser neues Raumparfum zu genießen. Wie viele Gallonen fasst doch gleich unser Mistkübel?
Wir haben schon erwogen, ein Buch zu schreiben: „Von Walmart zu Walmart, unsere Reise durch die USA“;-). Beim Walmart gibt es alles, was man sich nur vorstellen kann. Neben Lebensmitteln - wir schätzen die große Obst- und Gemüseabteilung - bekommt man hier auch jede Menge Non Foods. Es gibt Abteilungen für Elektronik, Gewand, Spielwaren, usw. Sehr viel Ramsch und Junk ist natürlich auch dabei. Fast immer findet man in den Märkten einen Optiker und eine Apotheke/Drogerie mit Beratung. Sogar impfen kann man sich hier lassen, z.B. gegen Grippe. Auch Friseur, Fußpflege und Bank sind oft vorhanden. „Full hook-up“, nennt es Klaus und meint damit das volle Programm, das ein gut ausgestatteter amerikanischer Campingplatz bietet, auf dem sich die großen Wohnmobile direkt an Strom, Wasser und Abwasser anschließen können. Wichtig für uns sind Klo und Internet, und auch unsere Gasflaschen können wir beim Walmart tauschen. Im Fast Food Restaurant kann man gemütlich sitzen und surfen, ohne etwas konsumieren zu müssen. Die Märkte sind fast alle rund um die Uhr geöffnet. Für Reisende wie uns ist das sehr praktisch, weil man einfach weiß, dass man dort immer alles kriegt. Die andere Seite der Medaille ist, dass Walmart viele kleinere Geschäfte zerstört hat, und dass die Angestellten wenig verdienen und keine Krankenversicherung haben. Was wir aber auch sehen sind Arbeitsplätze für geistig und körperlich Behinderte, sogar mit Rollator oder Krücken und auch extrem Fettleibige.
Di, 15. August, Mariä Himmelfahrt
In den USA ist das erwartungsgemäß kein Feiertag.
Wir haben eine unangenehm heiße Nacht hinter uns. Und jetzt geht es noch weiter nach Süden. Wir wollen ja rechtzeitig zur totalen Sonnenfinsternis in Tennessee sein.
Es wird Zeit, dass wir aus diesem Walmart-Universum wieder herauskommen. Für heute Abend haben wir wieder einen Campingplatz gebucht. Unser lauschiges Frühstücksplätzchen auf dem Besucherparkplatz eines Gefängnisses mit Stacheldraht und Wachtürmen ist allerdings auch nicht viel besser.
Wir sind mitten im Rust Belt. Ohio, Indiana, Illinois und Michigan gehören dazu, und die Kohleindustrie von West Virginia. Die Schwerindustrie hat ihre Standorte geschlossen oder in billiger produzierende Entwicklungsländer verlegt. Auch der Niedergang der Autoindustrie spielt eine Rolle. Viele Arbeitsplätze sind dadurch verloren gegangen. Die ärmeren Leute, die es hier geschafft haben, ein billiges Haus zu kaufen, sitzen nun in der Falle. Das Haus ist vielleicht noch gar nicht abbezahlt. Zumindest ist es jetzt in dieser Gegend unverkäuflich oder nur mehr wenig wert. Daher ist kein Geld für einen Umzug und den Aufbau einer neuer Existenz vorhanden.
Früher hieß dieser Gürtel im Nordosten der USA „Manifacturing Belt“ und war die älteste und größte Industrieregion. Sie reichte bis New Jersey und New York. Die Krise begann schon in den 1970er-Jahren. Die wirtschaftliche Bedeutung nahm seither rapide ab. Das Eisen begann sozusagen zu rosten. Einigen Städten ist es besser gelungen, mit diesem Strukturwandel zurecht zu kommen, anderen schlechter. Arbeitslosigkeit, Kriminalität und urbaner Verfall sind die Folge dieser Entwicklung. Ein typisches Beispiel dafür ist Detroit, aber auch St. Louis, die Stadt, in die wir jetzt unterwegs sind. Diese Situation hat viele Wählerstimmen für Trump gebracht.
Irgendwie spürt man die Trostlosigkeit. Das schlägt sich auf die Dauer aufs Gemüt. Ich hoffe, dass wir diese Gegend und die steigende Hitze noch gut überstehen.
Wir passieren den Zusammenfluss von Mississippi und Missouri, nördlich von Saint Louis, der wichtigsten Stadt der Great Plains. Die Stadt liegt bereits in MISSOURI, am westlichen Ufer des Mississippi und hat etwas mehr als 300.000 Einwohner. In der Metropolregion leben fast 3 Mio. Menschen. Die Einwohnerzahl geht aber immer weiter zurück. Ganze Häuserblöcke stehen leer. Die Kriminalitätsrate ist hoch. 2015 war es die gefährlichste Stadt der USA. Früher war St. Louis ein großer Eisenbahnknoten. Der Personenverkehr spielt aber keine Rolle mehr. Eine total heruntergewirtschaftete Industrie- und Gewerbezone erstreckt sich über 15km am Flussufer entlang. Das nimmt den Bürgern den Zugang zum Fluss. Nur der Jefferson Memorial Park mit dem Gateway Arch ist die positive Ausnahme. Die Stadtverwaltung hat begonnen, verlassene Grundstücke in Grünflächen umzuwandeln. So kann sich St. Louis die „Stadt mit über tausend Parks“ nennen.
Was die Musikszene betrifft, so ist hier einerseits der Jazz lebendig, und das St. Louis Symphony Orchestra ist berühmt.
Wir machen eine Sitzbesichtigung- schaut eh ganz normal aus. Die Downtown gefällt uns sogar recht gut. Manche der „alten“ Hochhäuser haben Verzierungen, die Klaus an Lego erinnern. Wir sehen auch Glaspaläste, „flämisches Barock“, „gotische“ Kirchen und ein faschistoid wirkendes Gerichtsgebäude. Universitäten gibt es auch. Einige Kunstwerke stehen in den Straßen. Recht witzig finde ich einen pummeligen Typen im rosa Anzug ohne Kopf. Der beeindruckende Gateway Arch aus Stahl - er ist 192m hoch - beherrscht die Skyline der Stadt. 1965 wurde er eröffnet. Er symbolisiert die historische Rolle von St. Louis als Tor zum Westen. Lewis und Clark sind am Beginn des 19. Jhd. von hier in den unerforschten Westen aufgebrochen und zunächst den Missouri hinauf gefahren. Übrigens hat die Stadt 1927 - als sie noch blühte und ein Innovationszentrum war - Charles Lindbergh für den ersten Nonstopflug über den Atlantik, von New York nach Paris, gesponsert. Zum Dank nannte er sein Flugzeug „Spirit of St. Louis“. Wir haben es im Space and Air Museum in Washington D.C. gesehen. Dieser Spirit hat sich in der Zwischenzeit leider verflüchtigt.
Beim Verlassen des unmittelbaren Stadtzentrums sehen wir dann auch die Schrottplätze am Ufer des Mississippi, einige Industrieruinen, Abraumhalden und ziemlich viel Dreck an den Straßenrändern.
Für die Statistik: Wir haben gerade den 30.000er überschritten. So viele Kilometer sind wir bereits auf dieser Reise gefahren. Ob wir auch die „Erdumrundung“ mit 40.000km schaffen werden?
Unser Campingplatz lieg in einem Vorort namens Granite City. Der Name ist ja auch nicht besonders vielversprechend, aber der Platz ist ganz OK. Die Konzerte der Zikaden erinnert mich an Urlaube in meiner Kinderzeit, mit den Eltern im Süden. Na ja, wir sind ja hier auch im Süden, ungefähr auf der geographischen Breite von Griechenland. Sehr selten beneide ich die Leute, die in Zelten schlafen. Aber heute ist so eine Nacht. Da ist es in einem Zelt sicher kühler als im Wohnmobil.
Mi, 16. August
Wenn es auch nachts nicht abkühlt, ist das irgendwie zermürbend. Unsere Lieben zu Hause leiden ja schon viel länger unter einer Hitzewelle. Wir fahren weiter nach Süden, „damit wir nicht frieren“, meint Klaus. Wir fahren auf dem Lewis-and-Clark-Boulevard durch St. Louis und dann auf die Autobahn. Etwas nördlich von hier hat Mark Twain gelebt, und da hat er auch seine Geschichte von Tom Sawyer und Huckleberry Finn angesiedelt. Die beiden sind mit einem Floß den Mississippi hinuntergefahren.
Wir fahren durch ein hügeliges Land mit Wäldern. Die Klimaanlage läuft. Draußen hat es 32°. Und schon haben wir Missouri erledigt und reisen in ARKANSAS [’Åkænså:] ein. Da waren wir Anfang Mai schon einmal, aber nur für eine Stunde.
Unser heutiges Tagesziel ist Pocahontas. Ich wusste nicht, dass es einen Ort dieses Namens gibt. Ich kannte bisher nur den Zeichentrickfilm von Walt Disney. Beim Recherchieren stelle ich fest, dass es sogar acht Orte in den USA gibt, die so heißen. Pocahontas = “Die Verspielte“ gab es wirklich. Sie war die Lieblingstochter eines Indianerhäuptlings und hatte einigen Einfluss auf ihren Vater. 1695 wurde sie im heutigen Virginia geboren. Sie bemühte sich sehr um die Vermittlung zwischen ihrem Volk und den englischen Kolonisten und den Austausch der Kulturen. Dem englischen Kapitän, John Smith, hat sie angeblich das Leben gerettet, indem sie sich vor ihn warf, als ihr Vater ihn töten wollte. Eine Liebesgeschichte hat es aber nicht gegeben. Das Mädchen heiratete einen englischen Pflanzer und ließ sich taufen.
Mit ihrem Mann reiste sie nach England und wurde als „Indianerprinzessin“ sogar bei Hofe empfangen. Sie wirkte dort sehr erfolgreich als Botschafterin ihres Vaters. Kurz vor ihrer Rückreise starb sie an Tuberkulose oder Typhus. Sie wurde nur 22 Jahre alt. Ihr Sohn hatte zahlreiche Nachkommen, die zum Großteil der weißen Oberschicht angehörten. Wer in Virginia noch heute etwas auf sich hält, stammt von Pocahontas ab, z.B. Nancy Reagan und George W. Bush.
Beim Abendessen in der „Pizza Hut“ lernen wir den freundlichen, jungen Kellner, Oscar und seine schwangere Frau, Heidi, die Kellnerin, Nicki, und den Pizzaboten, Michael kennen. Sie sind kindlich, überschwänglich begeistert von uns Exoten, unserer Reise und unserem Auto, das eingehend besichtigt wird. Jede Menge Fotos werden gemacht. Und schon haben wir wieder neue Facebook-Follower.
Geplant war es zwar nicht, aber da es hier in „Pockey“ einen Walmart gibt, richten wir uns schon wieder auf dem Parkplatz zum Schlafen ein. Da solche Märkte die ganze Nacht über offen haben, und auch noch bis weit nach Mitternacht Kunden kommen und gehen, bietet so ein Platz ja auch eine gewisse Sicherheit.
Do, 17. August
Ein Blick aus dem Fenster, „und täglich grüßt der Walmart“.
In der Nacht hat es heftig zu regnen begonnen. Erfreulicherweise hat es dadurch ein wenig abgekühlt. Die Luftfeuchtigkeit ist allerdings sehr hoch und dadurch ist es enorm dunstig.
Arkansas ist das größte Reisanbaugebiet der USA. Auf unserem Weg nach Memphis fahren wir tatsächlich an vielen Reisfeldern vorbei. Es gibt aber trotzdem etwas Abwechslung in der Landschaft -Buschwerk, eine Eisenbahnlinie - nicht nur Agrarwüste, wie vor einigen Tagen.
In Marion, einem Vorort von Memphis, übernachten wir heute wieder auf einem Campingplatz. Wir sitzen nett beim Feuer und ahnen noch nichts vom blutigen Gelsenmassaker, das noch auf uns wartet. Erst als wir draufkommen, dass das Fliegengitter der offenen Luke in unserem Badezimmer nicht geschlossen war, beginnt der Kampf gegen die unzähligen Viecher langsam seine Ausweglosigkeit zu verlieren. So schlimm war es auf dieser Reise noch nie.
Fr, 18. August
Wir rufen uns ein Uber-Car. Das hat sich sehr bewährt. Wir überqueren den Mississippi und reisen in TENNESSEE, the „Volunteer State“ ein. Von weitem grüßt uns die große, glänzende Pyramide aus den 1990er-Jahren, ein Nachbau der Cheops-Pyramide. Sie soll an die Namensgleichheit von Memphis mit der Ägyptischen Stadt erinnern. Es ist eine riesige Mehrzweckhalle mit Restaurants, Hotel und Megastore- mit einem Wort, nichts für uns. Da lassen wir uns lieber zum ehemaligen Lorraine Motel bringen. Hier stand Martin Luther King im April 1968 auf dem Balkon von Zimmer 306, als er ermordet wurde.
Seit den 1980er-Jahren ist in diesem Gebäude das National Civil Rights Museum untergebracht, das sehr gut aufbereitet die Geschichte der Amerikanischen Bürgerrechtsbewegung erzählt.
Der schwarzen Bevölkerung ist so unfassbares Unrecht geschehen, so viel Erniedrigung und Gewalt, z.B. vom Ku Klux Klan, aber auch von offizieller Seite.
Und alle diese Dinge sind passiert, während wir schon gelebt haben, also in unserer Generation. Zur selben Zeit, als die Flüge zum Mond stattfanden und uns in Hollywood-Filmen ein Heile-Welt-Amerika vorgegaukelt wurde. Dass Schwarze ins Gefängnis kommen konnten, wenn sie sich im Autobus in die vorderen Sitze setzten, die den Weißen vorbehalten waren, kam da nicht vor. Wir sind tief betroffen. Dass da überhaupt Vergebung möglich ist, und die Wunden heilen können... „We shall overcome some day“.
Memphis ist eine Metropole der klassischen Südstaaten und die Geburtsstadt des Rock n’ Roll. Aber auch für die Entwicklung von Blues und Soul hatte die Stadt eine große Bedeutung. 650.000 Menschen leben hier, in der Metropolregion sogar 1,3 Mio. Knapp die Mehrheit von ihnen sind schwarz. Das immer feucht-heiße, subtropische Klima, das wir auch zu spüren bekommen, bescherte der Stadt am Ende des 19. Jhd. mehrere Gelbfieber-Epidemien.
Die Nähe des Mississippideltas hatte Memphis im 18. Jhd. zum Zentrum der Baumwoll- und Plantagenkultur der Südstaaten gemacht. Die frühe Eroberung während des Sezessionskrieges durch die Nordstaaten verhinderte weitere Kampfhandlungen und Zerstörungen. Nachdem Tennessee, und damit auch Memphis, im Juli 1866 endgültig Teil der Nordstaaten geworden war, zog die Stadt viele ehemalige Sklaven an. Die afroamerikanische Bevölkerung vervierfachte sich innerhalb von 10 Jahren. Die Emanzipation der Schwarzen schritt hier zunächst vergleichsweise rasch voran. Schwarze begannen eine einflussreiche Rolle zu spielen. Der hohe afroamerikanische Bevölkerungsanteil unterstützte bald eine gefestigte Schicht afroamerikanischer Ärzte, Anwälte, Banker und ähnlicher Berufe.
Ein dunkles Kapitel der Stadt waren die Jahre von 1910 bis 1954, als „Boss“ Crump das Sagen in der Stadt hatte, teilweise als Bürgermeister. Er arbeitete mit der Mafia zusammen, die ihm mit allen möglichen Tricks Wählerstimmen verschaffte, und war offener Rassist. Damals war das total gesellschaftsfähig. Strikte Rassengesetze hielten die meisten Schwarzen in schlecht bezahlten Hilfsarbeiterjobs.
Auch nach der Ära Crump wurde es auf diesem Gebiet noch lange Zeit nicht besser.
Als Folge des Mordes am Martin Luther King kam es immer wieder zu Straßenkämpfen, und der größte Teil des Stadtzentrums wurde dabei niedergebrannt.
Wenn man heute durch die lebendige Beale Street geht, merkt man davon nicht mehr viel. Die Backsteinbauten mit den bunten Aufschriften wirken pittoresk. Erst bei näherem Hinsehen erkennt man die schlechte Bausubstanz und den Verfall. Aus allen Läden und Lokalen und auf den Straßen ertönt beschwingte Musik. Gleich neben dem Elvis-Denkmal essen wir im Hard Rock Cafe zu Mittag, mit Blick auf den B. B. King’s Blues Club. Dieser Blues-Gitarrist und Sänger lebte von 1925-2015. Er beeinflusste Generationen von Rock- und Blues-Musikern.
Das waren also unsere drei Kings des heutigen Tages: Martin Luther King, Elvis- the King und B.B. King.
Seit den 1970er-Jahren wurde viel Geld in Sanierung und Wiederaufbau der Stadt gesteckt. Es gab auch schon mehrere schwarze Bürgermeister. Memphis gehört aber immer noch zu den gefährlichsten Städten der Welt- und das, obwohl sie doch die „Gürtelschnalle“ des Bible Belts ist, dem Südosten der USA, in dem der evangelikale Protestantismus integraler Bestandteil der Kultur ist.
Wir gestehen, wir haben Graceland, Elvis’ Haus, nicht besucht. Wir hören seine Songs zwar recht gerne, aber dieser Kult ist eindeutig „too much sob-stuff“ für uns.
Am Abend kämpfen wir wieder mit den, hier besonders aggressiven, Gelsen und in der Nacht mit der Hitze. Wir freuen uns schon auf Kanada und auf den Herbst.
Sa, 19. August
Wir fressen ein paar Kilometer Richtung Nashville, das ca. 300km nordöstlich von hier liegt und verlassen endgültig den „Alten Mann“ Mississippi. Ein Schild mit der Aufschrift „Drive-Thru Prayer“ lädt uns ein. Man kann durchfahren, den Volunteers, die dort Dienst machen seine Sorgen und Nöte anvertrauen, und sie bitten, für einen zu beten. Die sprechen dann Gebete durchs Autofenster- so ist es im Internet erklärt. Wir schlagen diese spirituelle Einladung allerdings aus und machen unsere Pause lieber neben einer kleinen Kirche auf dem überdachten, schattigen Parkplatz „reserved for the Pastor“- ganz schön frech. In Jackson beziehen wir Stellung im - richtig geraten - kühlen Walmart. Wir holen uns etwas Obst, Wasser und frisch gebrauten Kaffee aus dem Wohnmobil ins „Büro“ und ignorieren wieder einmal die hiesigen Burger. Wie immer haben wir auch Socken und Jacke dabei, während uns draußen der Hitzschlag droht. Übrigens, wie sangen schon Johnny Cash und seine Frau June Carter in den 1960er-Jahren: „We’re goin’ to Jackson (Tennessee), and that’s a fact...“.
So, 20. August
Wenn wir schon beim Walmart stehen, kaufen wir gleich ein. Klaus legt eine Flasche Wein ins Wagerl. Bei der Kassa erntet er vorwurfsvolle Blicke. „Am Sonntag wird kein Alkohol verkauft!“ Ein weiteres Kapitel wird zu den amerikanischen Befremdlichkeiten hinzugefügt. Es darf ja grundsätzlich kein Alkohol in der Öffentlichkeit sichtbar sein. Die Flaschen werden immer in undurchsichtigen Säcken transportiert. Man kann schon mal jemanden sehen, der eine, in einen braunen Papiersack eingepackte, Flasche an den Mund setzt, z.B. bei Straßenfesten. Spezialauswüchse zu diesem Thema: bunte Flaschenüberzüge mit markigen Sprüchen, kann man in diversen Gift-Shops kaufen.
Wir fahren weiter nach Nashville, auf der Autobahn, durch dichte Wälder. Unsere Klimaanlage rettet uns vor der Hitze, aber nicht vor Schnupfen und Kopfweh.
Nashville, die Hauptstadt von Tennessee ist aus dem Fort Nashborough entstanden. Sie hat ca. 600.000 Einwohner, die Metropolregion ca. 1,6 Mio. Die Stadt gilt als Zentrum der Country-Music und wird deswegen „Music City“ genannt.
Eine besondere Sehenswürdigkeit ist der Parthenon - 1897 eins zu eins dem Original auf der Akropolis in Athen nachgebaut - mit „original“, sehr goldener Athene-Statue aus 1990. Die pummelige Göttin ist 13m groß und hat blitzblaue Augen mit goldene Augenbrauen und Wimpern. Nashville bezeichnet sich gerne als „the Athens of the South“. Und ich dachte immer, dass Griechenland auch im Süden liegt ;-). Der Tempel steht im Centennial Park, der anlässlich der Jahrhundertwende zum 20. Jhd. angelegt wurde, mit künstlichem See, usw. Die Leute schaukeln in bereitgestellten Hollywood-Schaukeln und Hängematten, liegen im Gras oder spielen Ball- richtig idyllisch. Bis in die 1960er-Jahre war es allerdings für Schwarze verboten, diesen Park zu betreten. Gegenüber dem Parthenon steht ein Monument aus Bronze, das anlässlich des Women’s Equality Day 2016 errichtet wurde.
In Downtown, am Broadway - den gibt es hier auch - herrscht buntes, beschwingtes Leben. Aus den berüchtigten Honky-Tonk Bars ertönt Musik. Auch den neuesten Wolkenkratzer entdecken wir „The Pinnacle at Symphony Place“, einen origineller Glaspalast aus 2010. Er heißt so, weil er an das Schermerhorn Symphony Center angrenzt.
Jetzt brauchen wir nur noch einen Platz zum Schlafen, von wo aus wir morgen die totale Sonnenfinsternis sehen können. Wir sind ja bereits innerhalb des „Korridors“, in dem das Naturereignis zu sehen sein wird. Im Internet haben wir gelesen, dass Millionen von Leuten unterwegs sind, und dass auf jeder Wiese Zeltstädte entstanden sind. Bis jetzt merken wir noch nichts von Verkehrschaos oder Menschenmassen. In Carthage wirft sich uns ein Walmart in den Weg. Und schon haben wir unser ideales Plätzchen gefunden. Wir sind eben hard-core Fans;-). „Carthaginem esse delendam“, murmle ich versonnen vor mich hin. „Hoffentlich nicht morgen“, meint Klaus. Außerdem spricht man diese Stadt hier ja [’ka:titsch] aus.
Ob Sonne und Mond wohl schon ein bisschen aufgeregt sind, vor ihrem morgigen großen Auftritt? Angeblich soll „the Total Eclipse“ ja das am häufigsten fotografierte und in den Sozialen Medien geteilte Ereignis der gesamten Menschheitsgeschichte werden. Sie übertreiben halt auch recht gern, die Amerikaner.
Mo, 21. August
Wir haben recht gut geschlafen. Ob Sonne und Mond aufgeregt sind, wissen wir nicht, aber Klaus ist es definitiv. Er recherchiert den ganzen Vormittag ganz genau. Er möchte die totale Sonnenfinsternis ja auch möglichst gut fotografisch festhalten. Gut, dass wir unsere Spezialbrillen - aus dem Jahr 1999 - von zu Hause mitgebracht haben. Erstaunlicherweise hätten wir beim Walmart keine bekommen, wo er doch sonst alles hat. Das Schauspiel beginnt um 12h Mittag. Man merkt deutlich, wie es immer dunkler wird- und auch kühler. Die Totalität ist um 13.28’13“ erreicht. Klaus gelingen sensationelle Fotos, auch von der Korona und dem „Diamantring“. Dann erscheint wieder das Sonnenkipferl, diesmal das zunehmende. Und das Licht kehrt zurück. Ca. um 14h50 ist der Zauber wieder vorbei. Gratulation an die Hauptakteure, Mond und Klaus! Beide haben ihre Aufgabe hervorragend gemeistert. Nicht zu vergessen, die tolle Planung, dass wir heute gerade hier sind, und das bei wolkenlosem Himmel Ich kann mich nur wiederholen: „Wånn mi des Reisebüro net vermittelt hätt’...“.
Im Internet kursieren seit einigen Tagen Scherze wie folgender:
„Dear Lord, if you want us to impeach Trump,
just give us a sign, like blot out the sun, anytime in the next week.
Thanks, America“ J
Nachdem wir gleich an Ort und Stelle - Walmart macht’s möglich - einen Facebook-Eintrag samt Fotos online gestellt haben, machen wir uns wieder auf den Weg- nach Nordosten. Bald darauf überschreiten wir die Grenze nach KENTUCKY, dem Staat mit „Unbridled Spirit“.
Edle Pferde werden hier gezüchtet. Der Staat wird auch das Pferdeland genannt.
Neben Mais und Sojabohnen wird hier auch Tabak angebaut. Wir kommen an Trockenscheunen vorbei, die Klaus unbedingt fotografieren muss. Schließlich haben er und seine älteren Geschwister als Kinder als Tabakpflücker gearbeitet.
Allerdings ist es gefährlich in Kentucky. Wir haben gerade ein „Warnschild“ gesehen:
Warning
Jesus comes
Are you prepared?
Im Buch „Hillbilly-Elegie“, das uns Nancy Keltner in Davis geschenkt und ans Herz gelegt hat, wird erklärt, dass man jemanden abfällig „Hillbilly“ nennt, der aus den ländlichen, gebirgigen Gegenden der USA kommt. Das ist also so eine Art Hinterwäldler. Der Autor des genannten Buches stammt aus Kentucky. Es ist offenbar ganz schwer für so jemanden, aus seinem Milieu heraus zu kommen. Ich dachte bis jetzt, dass das eine Musikrichtung ist: Stefanie Werger möchte doch „so gern an Hillybilly spül’n“.
Am Abend überschreiten wir dann auch noch die Zeitzone zur Eastern Time. Wir haben uns auf 6 Stunden Zeitunterschied gegenüber zu Hause angenähert.
Irgendwann auf dieser Reise haben wir bei einem Walmart einen „Road Atlas“ gekauft. Da stehen die Adressen aller Walmart-Märkte drinnen. Wir geben also so eine Adresse in unser GPS ein und landen in Somerset. Es ist wirklich schräg, dass wir nicht nur jeden Morgen im selben Häuschen aufwachen, sondern auch in derselben Umgebung, obwohl wir uns einige 100 Kilometer weiterbewegt haben.
Di, 22. August
Weiter geht es nach Nordosten. „Almost heaven, WEST VIRGINIA, Take me home country road...“ sang einst John Denver. Landschaftlich ist das Land sehr schön, aber es wurden und werden arge Umweltsünden im Zuge der Kohlegewinnung begangen. Wir fahren ziemlich lange den Ohio River nach Norden entlang. Er erinnert uns an die Donau.
Gegen Abend überqueren wir den Fluss und kommen nach OHIO „So much to discover“. Es waschelt. Wir schlafen schon wieder in Jackson - diesmal in Ohio - und schon wieder beim Walmart. Bei diesem Regen empfiehlt sich ein fester Untergrund. Die Abkühlung begrüßen wir mit Freude. So ein Walmart als gut sortierter „Campingplatz-Laden“ und Aufenthaltsraum mit Internet ist ja auch nicht zu verachten, zumal er auch abends nicht zusperrt.
Mi, 23. August
Heute geht’s nach Berlin, wo die Amischen zu Hause sind. Wir sind nach Norden unterwegs und entkommen so der subtropischen Klimazone. Die feuchte Hitze hat uns in den letzten Tagen arg zu schaffen gemacht. Wir haben ja vor einigen Tagen den Parthenon besucht. Jetzt kommen wir endlich auch nach Athens.
Zu unserer Überraschung fahren wir nochmals durch ein Zipfelchen von WEST VIGINIA, „wild und wonderful“. Auf diese Weise gelangen wir nach Vienna und sogar nach Schoenbrunn Village. Dann überqueren wir wieder den Ohio River und sind zurück in OHIO. Wir fahren durch bewaldete Hügel, eine friedliche, nette Landschaft.
Berlin, den Hauptort des Amish Country, finden wir zunächst enttäuschend. Die Hauptstraße ist eine einzige Shopping City mit Vintage-Ramsch, mit dem die Amischen sicher nichts zu tun haben. Wir biegen in Nebenstraßen ab. Eine gute Entscheidung, denn bald sehen wir die ersten Pferdkutschen, Buggys genannt. Die Männer tragen spezielle Bärte und Strohhüte. Die Hosen werden mit Hosenträgern gehalten. Gürtel sind nicht erlaubt. Die Frauen und Mädchen tragen Häubchen und einfarbige, wadenlange Kleider, die mit Ösen geschlossen sind. Knöpfe und Reißverschlüsse sind nicht erlaubt. Viele fahren auch auf Fahrrädern. Wir kommen an Höfen und Häusern vorbei, vor denen die Buggys parken und Pferde grasen. Die Häuser sind nicht an das Elektrizitätsnetz angeschlossen. Auch Telefone werden nicht benutzt. Technischer Fortschritt wird abgelehnt oder nur nach sehr sorgfältiger Prüfung der Auswirkungen zugelassen. Wir schauen einem Bauern bei der Feldarbeit mit Pferden zu und werfen einen kurzen Blick in einen Laden, in dem es wie im Heimatmuseum aussieht. Die Menschen hier führen meist ein mit der Landwirtschaft verwurzeltes Leben. Manche sind Handwerker, z.B. Tischler und Bäcker. Familie spielt eine sehr große Rolle. Die Geschlechterrollen sind klar vorgegeben. Sie leben gewaltlos und streng nach der Bibel. Die Gemeinschaft ist ihnen wichtig und die Abgeschiedenheit von der Außenwelt. Aus der Politik halten sie sich völlig raus. Der Dorfschmied spricht uns an. Der fesche, offene, junge Mann ist sehr interessiert. Er sieht gar nicht so typisch Amisch aus. Er gehört offenbar zur „New Order“. Es gibt nämlich verschieden Abstufungen, von ganz streng bis etwas aufgeschlossener. Er erzählt uns, dass bei ihm zu Hause, wie in allen Amischen Familien “Pennsylvania Dutch“ gesprochen wird. Diese Sprache klingt für uns ähnlich einem süddeutschen Dialekt. Wir können ihn verstehen. Unser Hochdeutsch versteht er zwar ein wenig, aber er kann es nicht sprechen. Von ihm erfahren wir auch, dass die Kinder in Spezialschulen gehen oder zu Hause unterrichtet werden. Manche Leute - die „moderneren“ - schicken ihre Kinder in die öffentliche Schule, damit sie auch ordentlich englisch lernen. Sonst können sie außerhalb der Gruppe ja überhaupt nicht kommunizieren. Die Jugendlichen dürfen für ca. zwei Jahre „herumspringen“, sich austoben. Sie feiern ausgelassene Partys und gehen in „englische“ Lokale. Danach müssen sie sich entscheiden, ob sie sich taufen lassen wollen oder weggehen. Reumütig zurückkehren können sie aber immer. Fast alle kommen zurück, obwohl Auto, Fernseher und Handy schon sehr locken. Die liebevolle Gemeinschaft mit ihrer Geborgenheit und Sicherheit ist ihnen dann doch wichtiger.
Die Amischen haben sich bereits 1632 - noch in Europa - von den Mennoniten abgespalten, unter dem damaligen Gemeindeleiter, Ammann. Nach ihm haben sie sich benannt. Aus dieser Zeit stammen die besonders strengen Regeln und die Kleiderordnung. Sie wurden immer heftiger verfolgt, also wanderten viele nach Amerika aus. Mit Segelschiffen über den Atlantik, das muss sehr aufregend gewesen sein. Zunächst war Pennsylvania ihr Ziel, weil ihnen der Quäker, William Penn, Religionsfreiheit gewährte. Später breiteten sie sich auch auf andere Staaten aus. Man sollte eigentlich meinen, dass diese Gruppe langsam ausstirbt. Aber das Gegenteil ist der Fall. Sie haben sogar Zulauf. Es gibt wohl eine Sehnsucht nach einem einfachen Lebensstil, Geborgenheit in der Gruppe und klaren Regeln, die einem das Seelenheil garantieren, wenn man sie einhält.
Wir haben für heute genug erlebt und folgen einem Schild zu einem einfachen, privaten Campingplatz. Wir freuen uns sehr auf eine Dusche. Danach genießen wir es, im Freien am Feuer zu sitzen.